Intensivmedizin
Die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin empfiehlt, folgende neun Interventionen in der Intensivmedizin zu vermeiden:
1) Beschränken Sie die Sedierung mechanisch beatmeter Patienten auf ein Niveau, das durch validierte Skalen eingeschätzt wird und tägliches Aufwachen – sei es auch nur teilweise – ermöglicht.
Erwartete positive Wirkungen
- Verringerte Gesamtdauer der mechanischen Beatmung
- Verringerte Inzidenz von Komplikationen in Verbindung mit der mechanischen Beatmung (durch die intensivmedizinische Betreuung bedingte Lähmungen, Delirium, über das Beatmungsgerät erworbene Infektionen)
- Erleichterung der frühzeitigen Mobilisierung der Patienten
Übernahme der Massnahme durch andere Fachgesellschaften
- Amerikanische Choosing-Wisely-Liste1
- ANZICS-Liste2
Evidenzlevel
- Interventionsstudien
- Beobachtungsstudien
- Metaanalysen
- Empfehlungen von Fachgesellschaften
Referenzen:
Halpern SD, Becker D, Curtis JR, Fowler R, Hyzy R, Kaplan LJ, Rawat N, Sessler CN, Wunsch H, Kahn JM; Choosing Wisely Taskforce; American Thoracic Society; American Association of Critical-Care Nurses; Society of Critical Care Medicine. An official American Thoracic Society/American Association of Critical-Care Nurses/American College of Chest Physicians/Society of Critical Care Medicine policy statement: the Choosing Wisely® Top 5 list in Critical Care Medicine. Am J Respir Crit Care Med 2014;190(7):818-26. doi:10.1164/rccm.201407-1317ST.
2) Beschränken Sie die Transfusion von Erythrozyten bei stabilen Patienten ohne Blutungen (Schwelle für Transfusion: Hämoglobinwert von 70 g/l).
Erwartete positive Wirkungen
- Einsparung von Blutprodukten und Kosten
- Verringerung transfusionsbedingter Komplikationen (Transfusionszwischenfälle, transfusionsassoziierte Kreislaufüberlastung [TACO], transfusionsassoziierte Lungeninsuffizienz [TRALI])
Übernahme der Massnahme durch andere Fachgesellschaften
- Amerikanische Choosing-Wisely-Liste1
- ANZICS-Liste2
Evidenzlevel
- Interventionsstudien
- Beobachtungsstudien
- Empfehlungen von Fachgesellschaften
Referenzen:
3) Bei Patienten mit einem signifikanten Risiko zu sterben oder schwerwiegende Schäden davonzutragen sind lebenserhaltende Massnahmen nur dann fortzusetzen, wenn mit dem Patienten – oder den Angehörigen, die ihn vertreten – zuvor die Behandlungsziele besprochen wurden, und zwar unter Berücksichtigung der Werte und persönlichen Wünsche des Patienten.
Erwartete positive Wirkungen
- Verringerung der Pflegemassnahmen mit unangemessener Dauer und/oder Intensität
- Förderung der Kommunikation sowie der Information des Patienten und der Angehörigen
- Harmonisierung der Entscheidungsprozesse in der Intensivpflege
Übernahme der Massnahme durch andere Fachgesellschaften
- Amerikanische Choosing-Wisely-Liste1
- ANZICS-Liste2
- SAMW-Leitlinien3
Evidenzlevel
- Interventionsstudien
- Beobachtungsstudien
- Empfehlungen von Fachgesellschaften
Referenzen:
Intensivmedizinische Massnahmen. Medizin-ethische Richtlinien. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften. http://www.samw.ch/dam/jcr:48fab1c2-3a14-4bdb-b881-8e60979c1b47/richtlinien_samw_intensivmedizinische_massnahmen.pdf
4) Verabreichen Sie keine Breitbandantibiotika, ohne zu Beginn die Eignung der Behandlung und jeden Tag die Möglichkeit einer Deeskalation zu prüfen.
Erwartete positive Wirkungen
- Verringerung des Gesamtverbrauchs an Breitbandantibiotika
- Verringerung assoziierter Komplikationen (Allergien, Nieren- und Leberversagen, Sekundärinfektion mit resistenten Keimen)
- Verringerung des Selektionsdrucks und der Resistenzentwicklung
Übernahme der Massnahme durch andere Fachgesellschaften
- ANZICS-Liste2
- Gemeinsame Empfehlungen der European Society for Intensive Care Medicine (ESCIM) und des European Centre for Disease PRevention and Control (ECDC), im Einklang mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO World Antibiotic Awareness Day)
Evidenzlevel
- Interventionsstudien
- Beobachtungsstudien
- Empfehlungen von Fachgesellschaften
Referenzen:
http://www.esicm.org/news-article/European-Antibiotic-Awareness-Day-November-18-2015
5) Führen Sie keine routine- oder regelmässigen Zusatzuntersuchungen durch; Untersuchungen sollten nur mit dem Ziel durchgeführt werden, eine spezielle, für den Patienten relevante Fragestellung aufzuklären.
Erwartete positive Wirkungen
- Verringerung der Gesamtzahl der Untersuchungen und der damit verbundenen Kosten
- Verringerung der negativen Begleiterscheinungen (Strahlenbelastung, Anämie)
- Verringerung des Risikos nutzloser und ungeeigneter Behandlungen
Übernahme der Massnahme durch andere Fachgesellschaften
- Amerikanische Choosing-Wisely-Liste1
Evidenzlevel
- Interventionsstudien
- Beobachtungsstudien
- Metaanalyse
- Empfehlungen von Fachgesellschaften
Referenzen:
5 Cecconi M, De Backer D, Antonelli M, Beale R, Bakker J, Hofer C, Jaeschke R, Mebazaa A, Pinsky MR, Teboul JL, Vincent JL, Rhodes A. Consensus on circulatory shock and hemodynamic monitoring. Task force of the European Society of Intensive Care Medicine. Intensive Care Med. 2014 Dec;40(12):1795-815. doi: 10.1007/s00134-014-3525-z
6) Verabreichen Sie Patienten ohne Ernährungsdefizit in den ersten vier bis sechs Tagen auf der Intensivstation keine parenterale Ernährung.
Erwartete positive Wirkungen
- Verringerter Einsatz parenteralen Ernährung und geringere damit einhergehende Kosten
- Verringerung assoziierter Komplikationen (Infektionen, Leber- und Stoffwechselkomplikationen)
Übernahme der Massnahme durch andere Fachgesellschaften
- Amerikanische Choosing-Wisely-Liste1
- ANZICS-Liste2
Evidenzlevel
- Interventionsstudien
- Empfehlungen von Fachgesellschaften
Referenzen:
CDC Guidelines for the Prevention of Intravascular Catheter-Related Infections, 2011 http://www.cdc.gov/hicpac/pdf/guidelines/bsi-guidelines-2011.pdf
7) Verabreichen Sie Patienten mit Kreislaufinsuffizienz keine intravenösen Flüssigkeiten, ohne zuvor die Reaktion darauf mithilfe eines dynamischen Tests untersucht zu haben.
Erwartete positive Wirkungen
- Verringerte Verabreichung intravenöser Flüssigkeiten und geringere damit einhergehende Kosten
- Verringerung assoziierter Komplikationen (Flüssigkeitsüberladung, Nierenversagen, Stoffwechselkomplikationen)
Übernahme der Massnahme durch andere Fachgesellschaften
- ESICM-Konsenspapier5
Evidenzlevel
- Beobachtungsstudien
- Expertenmeinung und bewährte Praxis (Best Practice)
- Empfehlungen von Fachgesellschaften
Referenzen:
8) Verabreichen Sie nicht systematisch eine Ulkusprophylaxe, sondern nur nach Abwägung von Nutzen und Risiko und bei gleichzeitiger Bevorzugung der enteralen Ernährung.
Erwartete positive Wirkungen
- Verringerung des Medikamentenverbrauchs und der damit verbundenen Kosten
- Verringerung der ausgelösten Komplikationen (in der Intensivstation erworbene Pneumonie)
Evidenzlevel
- Interventionsstudien
- Metaanalyse
- Empfehlungen von Fachgesellschaften
- Expertenmeinung
Referenzen:
Marik PE. Less Is More”: The New Paradigm in Critical Care. Evidence-Based Critical Care. P.E. Marik. Springer International Publishing Switzerland 2015. DOI 10.1007/978- 3-319-11020-2_2.
9) Verwenden Sie keine invasiven Instrumente (Katheter, Sonden, Drains), wenn kein Nutzen für den Patienten zu erwarten ist, und bewerten sie deren Notwendigkeit immer wieder mit dem Ziel einer möglichst baldigen Entfernung.
Erwartete positive Wirkungen
- Verringerung des Materialverbrauchs und der damit verbundenen Kosten
- Verringerung assoziierter Komplikationen (mit dem Einsetzen verbundene Komplikationen, Sekundärinfektionen, Immobilisierung des Patienten)
Übernahme der Massnahme durch andere Fachgesellschaften
- ANZICS-Liste2
- CDC-Empfehlungen6
Evidenzlevel
- Interventionsstudien
- Beobachtungsstudien
- Metaanalyse
- Empfehlungen von Fachgesellschaften
Referenzen:
Kox M, Pickkers P. "Less is more" in critically ill patients: not too intensive. JAMA Intern Med 2013;173(14):1369-72. doi: 10.1001/jamainternmed.2013.6702.
Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI)
Informationsflyer zu dieser Liste
Zur Ausarbeitung dieser Empfehlungen:
Auch wenn sich die amerikanische Choosing-Wisely-Liste auf wissenschaftliche Grundlagen stützt, die ohne Zweifel solide sind, muss es nicht notwendigerweise eine signifikante Änderung der Praxis mit sich bringen, wenn sie ausserhalb des Ursprungslandes vorgeschlagen und umgesetzt würde. Eine Analyse ähnlicher Initiativen in anderen Ländern (Australien und Neuseeland [ANZICS], Grossbritannien, Kanada [Choosing Wisely Canada], Frankreich) zeigt, dass die Anwendung der amerikanischen Vorschläge ausserhalb ihres ursprünglichen Kontextes in der Tat nicht ohne weiteres möglich ist.
Die Arbeitsgruppe hat somit mit der Ausarbeitung der Liste für die Schweiz begonnen, indem sie jede Massnahme der amerikanischen «Top-5-Liste» analysierte und die wissenschaftliche Grundlage jedes Vorschlags sowie die Probleme bewertete, die mit der allfälligen Umsetzung in der intensivmedizinischen Praxis der Schweiz verbunden sein könnten. Diese Analyse wurde mit der Ermittlung anderer auf dem Prinzip «Less is more» basierender Massnahmen ergänzt, die in der Fachliteratur vorgeschlagen werden, insbesondere in der ursprünglichen, vollständigen Liste des amerikanischen Expertenkonsenses7 und in verschiedenen anderen Publikationen.8,9
Die Arbeitsgruppe hat auch die wissenschaftlichen Grundlagen dieser Massnahmen sowie ihre Umsetzbarkeit in der Schweiz geprüft. Auf diese Weise wurde eine Liste mit neun Massnahmen erstellt, welche jene der amerikanischen Liste umfasst sowie vier weitere, welche die Arbeitsgruppe als relevant erachtete.
Um die Liste der von der Arbeitsgruppe in Betracht gezogenen Massnahmen zu legitimieren, hat der Vorstand der SGI-SSMI entschieden, die Mitglieder der interprofessionellen Gesellschaft (Ärzteschaft und Pflege) zu befragen, damit nicht Massnahmen vorgeschlagen werden, die ohnehin schon bei allen Patienten angewandt werden (überflüssiger Vorschlag), oder aber solche Massnahmen, die in den Intensivstationen nicht anwendbar oder nicht annehmbar sind (nutzloser Vorschlag). Dazu wurde eine Internet-Umfrage initiiert, deren Grundlage ein Fragebogen war, mithilfe dessen die Mitglieder für jede Massnahme angeben konnten, ob sie routinemässig, beim Grossteil oder nur bei einem kleinen Teil der Patienten oder vielleicht niemals angewandt wird. In diesem Fragebogen konnten sich die Mitglieder ebenfalls dazu äussern, ob die Massnahme in die endgültige Liste der SGI-SSMI aufgenommen werden sollte.
Im Anschluss an die Mitgliederumfrage wurde die Liste einer Expertengruppe der SGI-SSMI übermittelt. Die Expertengruppe bestand aus aktiven Mitgliedern der Gesellschaft und setzte sich aus leitenden Ärzten mit langer klinischer Erfahrung zusammen. Ihr Auftrag bestand darin, die Liste zu bewerten, bevor sie der Generalversammlung vorgelegt wird. Im Zuge dieser Konsultation wurde keine Änderung vorgeschlagen. Ende September 2016 wurde die Liste schliesslich der Generalversammlung der Mitglieder der SGI-SSMI präsentiert, die sie einstimmig annahm.