Anästhesiologie und Perioperative Medizin
Die Schweizerische Gesellschaft für Anästhesiologie und Reanimation empfiehlt, folgende fünf Interventionen in der Anästhesiologie und Perioperative Medizin zu vermeiden:
1) Die Indikationsstellung für einen Eingriff bei erwartet hoher perioperativer Morbidität/Mortalität und terminalem Leiden soll vorgängig mit allen beteiligten Fachrichtungen und zusammen mit dem Patienten (Shared Decision Making ) durchgeführt werden.
Das Risiko für eine erhöhte postoperative Morbidität und Mortalität steigt mit zunehmendem Lebensalter, dies ist zunehmend belegt ab einem Alter von > 70 Jahren und nimmt zusätzlich mit einer eingeschränkten funktionellen Kapazität zu.
Diese eingeschränkte körperliche Leistungsfähigkeit ist Gegenstand intensiver Forschung über die «Frailty» (Gebrechlichkeit). Diese beschreibt die erhöhte Verletzlichkeit gegenüber Stressoren wie einer Operation und bedingt ein vermehrtes Risiko von Komplikationen. Wenn eine sehr hohe perioperative Morbidität/Mortalität besteht, ist eine Diskussion mit der/dem Patient/-in über ein wünschenswertes und realistisch erreichbares therapeutisches Ziel zusammen mit allen an der Behandlung Beteiligten erforderlich.
Wichtig ist dabei auch, dass die Behandlungsgrenzen wie beispielsweise eine limitierte intensiv-medizinische Betreuung klar festgelegt werden und Alternativen aufgezeigt werden, die auf das Wohl und die Würde der/des Patient/-in fokussieren.
Referenz
Oshima Lee, E. and E.J. Emanuel, Shared decision making to improve care and reduce costs. N Engl J Med, 2013. 368(1): p. 6-8.
Feldman, L.S. and F. Carli, From Preoperative Assessment to Preoperative Optimization of Frailty. JAMA Surg, 2018. 153(5): p. e180213.
CW Listen von bereits veröffentlichten internationalen, anästhesiologischen Fachgesellschaften:
Australian and New Zealand College of Anaesthetists (ANZCA) http://www.choosingwisely.org.au/recommendations/anzca
Royal College of Anaesthetists (RcoA) & Royal College of Surgeons (RcoS) England http://www.choosingwisely.co.uk/i-am-a-clinician/recommendations/#1476651640539-f279ec69-9e40
2) Vermeide eine Bluttransfusion, falls das Hämoglobin ≥70 g/L ist – dies gilt für Patienten ohne relevante Systemerkrankung, bei denen die Blutung kontrolliert ist.
Ein optimaler Trigger für die Transfusion eines Erythrozytenkonzentrates kann evidenzbasiert kaum festgelegt werden, da in verschiedenen Studien für verschiedene klinische Situationen verschiedene Trigger verwendet wurden. Klar ist jedoch, dass Transfusionstrigger mit einem niedrigen Hämoglobinwert zu weniger Transfusionen und einer verminderten Morbidität und Mortalität führen. Transfusionen sollen immer unter Berücksichtigung von Co-Morbiditäten und klinischer Parameter wie der Beurteilung der Hämodynamik und der Gerinnung im Rahmen eines Patient-Blood-Management (PBM) erfolgen.
Patient/-innen mit einer Anämie sollen präoperativ wenn immer möglich optimiert werden und bei Operationen, bei denen mit einem erhöhten Blutverlust zu rechnen ist, sollen blutsparende Massnahmen grosszügig eingesetzt werden.
Referenz:
Carson, J.L., et al., Transfusion thresholds and other strategies for guiding allogeneic red blood cell transfusion. Cochrane Database Syst Rev, 2016. 10: p. CD002042.
Mazer, C.D., et al., Six-Month Outcomes after Restrictive or Liberal Transfusion for Cardiac Surgery. N Engl J Med, 2018.
CW Listen von bereits veröffentlichten internationalen, anästhesiologischen Fachgesellschaften:
American Society of Anesthesiology (ASA) http://www.choosingwisely.org/societies/american-society-of-anesthesiologists/
Australian and New Zealand College of Anaesthetists (ANZCA) http://www.choosingwisely.org.au/recommendations/anzca
3) Vermeide eine präoperative Routinediagnostik (Labor, EKG, Thoraxröntgen) bei Patienten ohne relevante Systemerkrankung.
Routinemässig durchgeführte präoperative Diagnostik trägt kaum dazu bei Patienten mit einem erhöhten perioperativen Risiko für Komplikationen zu identifizieren.
Pathologische Befunde von Labor, EKG oder Thoraxröntgen sind in dieser Situation selten und führen zu keinen Veränderungen des perioperativen Managements vor allem bei Eingriffen ohne erhöhtes Risiko. Ausschlaggebend für eine Risikoevaluation ist immer eine genaue Anamnese und klinische Untersuchung mit der Erfassung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Bei auffälliger Anamnese oder eingeschränkter Leistungsfähigkeit sind gezielte weiterführende Untersuchungen indiziert.
Dies gilt insbesondere für Hochrisiko-Eingriffe, bei denen gewisse präoperative Untersuchungen notwendig sind, um eine adäquate perioperative Betreuung zu gewährleisten.
Referenz:
National Institute for Health and Care Excellence (2016) Routine preoperative tests for elective surgery (NICE Guideline 45). Available at: https://www.nice.org.uk/guidance/ng45 [Accessed 10 Sept 2018].
CW Listen von bereits veröffentlichten internationalen, anästhesiologischen Fachgesellschaften:
American Society of Anesthesiology (ASA)
Australian and New Zealand College of Anaesthetists (ANZCA) http://www.choosingwisely.org.au/recommendations/anzca
Canadian Anaesthetists' Society (CSA) https://choosingwiselycanada.org/anesthesiology/
Royal College of Anaesthetists (RcoA) & Royal College of Surgeons (RcoS) England http://www.choosingwisely.co.uk/i-am-a-clinician/recommendations/#1476651640539-f279ec69-9e40
Anmerkung:
Diese Empfehlung gilt für Anästhesien bei «low-risk» Eingriffen; spezifische Anpassungen notwendig für «intermediate» und «high-risk» Eingriffe.
4) Vermeide eine perioperative Hypothermie (aktives, perioperatives Wärmemanagement).
Die perioperative Hypothermie ist ein Phänomen, das als Resultat einerseits einer Suppression der zentralen Thermoregulation im Rahmen einer Anästhesie, andererseits einer langen Exposition grosser Anteile des Körpers während einer Operation an die kühlen Temperaturen im Operationssaal auftritt.
Das Auftreten einer Hypothermie ist, evidenzbasiert, assoziiert mit postoperativen Komplikationen wie Wundinfekten, verzögerter Wundheilung, Gerinnungsstörungen und damit verbunden ein erhöhtes Blutungsrisiko oder auch kardiovaskulären Ereignissen.
Durch frühzeitiges, proaktives Wärmen zumeist über Wärmesysteme der Körperoberfläche, kann eine Homöostase des Körpers aufrechterhalten werden und somit ein Beitrag zur Reduktion der postoperative Morbidität und Mortalität geleistet werden.
Referenz:
Madrid, E., et al., Active body surface warming systems for preventing complications caused by inadvertent perioperative hypothermia in adults. Cochrane Database Syst Rev, 2016. 4: p. CD009016.
Sessler, D.I., Perioperative thermoregulation and heat balance. Lancet, 2016. 387(10038): p. 2655-2664.
5) Patienten sollen präoperativ ambulant abgeklärt und optimiert werden (Korrektur einer Anämie, körperliche Fitness, adäquate Ernährung, Rauchstop, Reduktion der Alkoholeinnahme; Ermöglichen der Same Day Surgery).
Eine frühzeitige ambulante Abklärung vor einer Operation bietet viele Vorteile. Ein adäquates Risiko-Assessment kann durchgeführt werden und erlaubt eine angepasste Planung des gesamten perioperativen Prozesses und eine reibungslose Durchführung des Eingriffs.
Durch die Behandlung einer Anämie sinkt das Risiko einer Bluttransfusion mit den entsprechenden Komplikationen, wenn das Zeitfenster vor einer Operation gross genug ist, führt eine Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit, das frühzeitige Einsetzen einer Atemtherapie, die Optimierung des Ernährungszustands, sowie die Elimination von Noxen (Rauchen, Alkohol) zu einer deutlichen Reduktion der postoperativen Mortalität und Morbidität.
Dies geht einher mit verkürztem Spitalaufenthalt und ist für PatientIn und Behandelnde ein wichtiges Ziel.
Viele dieser präoperativen Massnahmen, die mit einem positiven Outcome einhergehen, werden aktuell vielerorts nur teilweise umgesetzt und es gilt, das Bewusstsein dafür in einem interdisziplinären Ansatz zu stärken.
Referenz:
Barberan-Garcia, A., et al., Personalised Prehabilitation in High-risk Patients Undergoing Elective Major Abdominal Surgery: A Randomized Blinded Controlled Trial. Ann Surg, 2018. 267(1): p. 50-56.
Enhanced recovery (2016) Multimodal perioperative care pathways. Available at: https://www.nhs.uk/conditions/enhanced-recovery/and http://erassociety.org/ [Accessed 10 Sept 2018]
National Blood Authority Australia (2018) Patient Blood Management. Available at: https://www.blood.gov.au/patient-blood-management-pbm [Accessed 10 Sept 2018]
PWC Studie (2016) Ambulant vor stationär – oder wie sich eine Milliarde Franken jährlich einsparen lassen. Available at: https://www.pwc.ch/de/publications/2016/ambulant_vor_stationaer_de_16_web_final.pdf [Accessed 10 Sept 2018]
CW Listen von bereits veröffentlichten internationalen, anästhesiologischen Fachgesellschaften:
Australian and New Zealand College of Anaesthetists (ANZCA) http://www.choosingwisely.org.au/recommendations/anzca
Royal College of Anaesthetists (RcoA) & Royal College of Surgeons (RcoS) England http://www.choosingwisely.co.uk/i-am-a-clinician/recommendations/#1476651640539-f279ec69-9e40http://www.choosingwisely.co.uk/i-am-a-clinician/recommendations/#1476651640539-f279ec69-9e40
Schweizer Gesellschaft für Anästhesiologie und Perioperative Medizin SSAPM (zuvor die Schweizerische Gesellschaft für Anästhesiologie und Reanimation SGAR)
Informationsflyer zu dieser Liste
Zur Entstehung dieser Liste
Im März 2018 wurde an alle Mitglieder der Schweizerischen Gesellschaft für Anästhesiologie und Reanimation (SGAR/SSAR) ein Brief mit einem Raster für anästhesiologische Empfehlungen zur Initiative smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland: Anästhesiologie Schweiz verschickt mit der Bitte, die für jedes Mitglied potentiell wichtigen Empfehlungen aufzulisten.
Als «Gedankenstütze» wurden die Choosing Wisely-Empfehlungen der American Society of Anesthesiology (ASA), des Australian and New Zealand College of Anaesthetists (ANZCA), der Canadian Anaesthetists’Society (CSA) und des Royal College of Anaesthetists (RcoA) beigelegt.
Der Rücklauf war beträchtlich: 48 Vorschläge für entsprechende Empfehlungen mit insgesamt 136 Voten wurden eingereicht, dabei betrug das Maximum-Votum für eine Empfehlung 17.
Die Vorschläge wurden durch ein Expertengremium des SGAR-Vorstandes gemäss der Votenverteilung aufgelistet, gewisse Empfehlungen wurden zusammengefasst und gruppiert, so dass letztlich die wichtigsten 10 Empfehlungen aufgelistet werden konnten.
Anschliessend wurde eine Survey Monkey-Umfrage erstellt und alle Leiter einer anästhesiologischen Weiterbildungsstelle (WBS) in der Schweiz gebeten, die 10 Empfehlungen mittels einer 4-teiligen Likert-Skala (extrem wichtig, sehr wichtig, weniger wichtig, nicht wichtig) zu bewerten. 33 der insgesamt 55 WBS-Leiter nahmen an dieser Umfrage teil (Rücklaufquote 60%): Die fünf Empfehlungen mit den höchsten Mittelwerten (2.97– 3.51) wurden in die Top-5-Liste aufgenommen. Die anderen fünf Empfehlungen hatten einen Mittelwert zwischen 2.17 und 2.89.